Grotzius:  Phaeton + Ikarus, Tantalus + Ixion

 

Wenn das Leichte so schwer ist

Gert Mattenklott

Beim Fliegen scheiden sich die Geister - von den Körpern. Denn was die Körper vor allem ausmacht, ihr Gewicht, ihre Ausdehnung, ihre Trägheit, wird im Flug neutralisiert. Für den Geist ist die Einwohnung in Körpern eine Zumutung und tiefe anthropologische Kränkung. Was Geist ausmacht, Allgegenwärtigkeit, Beweglichkeit, Freiheit, stößt im Körper auf Grenzen. In nichts ist der Geist dem Körper ähnlich, in allen wesentlichen Bestimmungen vielmehr das schlechthin Andere. Studierend, phantasierend, wünschend und begehrend ist der Mensch in einem Nu jenseits von Ort und Zeit. Vor allem die körperliche Erdenschwere hindert ihn daran, leibhaftig dort zu sein, wo augenblicks der Geist schon weilt. Daß keine der wesentlichen Eigenschaften des Körpers eine Resonanz im Geist findet, ist der Grund, weshalb dieser sich mit dem Leib, so wie er ist, nicht abfinden kann. Das Nächstliegende, ihn zu verlassen, ist deshalb eine der am frühesten besetzten Ideen menschlicher Kultivierung, die in der Vorstellung von der Seele Gestalt gewinnt, die den Tod des Körpers nicht bloß überdauert, sondern dadurch erst frei wird. Für Nichtchristen ist die selbstmörderische Trennung von Körper und Geist allerdings für beide gleich tödlich. Bereits aus vorchristlicher Frühe datiert der Flugwunsch - immer wieder wird die Seele auch als Schmetterling vorgestellt - als ein symbolischer Kompromiß zwischen Geist und Körper. Er erleichtert das Leben, nicht bloß in der Vorstellung. Der geflügelte Geist verzichtet auf seine unversöhnliche Andersheit und wird dem Körper ähnlich; der Körper, indem er sich beflügeln läßt, gesteht zu, daß er als menschlicher Körper Anteil am Leben des Geistes nehmen muß. - Nie wird vom Fliegen gesprochen oder geträumt ohne die Erinnerung an Uraltes, sei es mythologisch, sei es im déjà vu von Gefühlen. Es ist die Erinnerung an den Ursprung des Menschen im Geist. Die Technikgeschichte des Fliegens ist ein Appendix der anthropologischen Selbstbestimmung.